Veröffentlichung: VersR 2011 Heft 7


Der Rückkaufswert im Spannungsfeld von AGB-, Verfassungs- und Gesetzgebungsrecht


Dr. Markus Jacob, Köln/Neuss*



Mit seinem Hinweis im Verfahren IV ZR 147/09 hat der BGH eine neue Runde zum Rückkaufswert und der damit korrespondierenden beitragsfreien Versicherungssumme eingeläutet. Betroffen sind alle Kapitallebens- und Rentenversicherungsver-träge, die im Zeitraum 2002 bis 2007 auf der Grundlage (vermeintlich) transparenter Versicher-ungsbedingungen geschlossen und innerhalb der ersten Jahre gekündigt bzw. beitragsfrei gestellt wurden. Insoweit hat der BGH eine Kehrtwende vorgenommen, indem er bislang materiellrechtlich unbeanstandete Regelungen zur Berechnung des Rückkaufswerts nunmehr als benachteiligend und daher gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB für unwirksam erachtet.

1. Der Fall

Ein VN hatte nach frühzeitiger Stornierung seiner im Jahr 2005 abgeschlossen Rentenversicherung im Hinblick auf eine angebliche Intransparenz der Klauseln über die Berechnung des Rückkaufswerts in den Vorinstanzen vergeblich die Auszahlung eines (Mindest-) Rückkaufswerts verlangt. Im Revisionsverfahren wies der BGH darauf hin, dass es auf die Frage einer Intransparenz möglicherweise nicht ankomme, da sich aus einer einschlägigen Entscheidung des BVerfG ergeben könne, dass die Klauseln einer materiellen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB nicht standhalten[1]. Hierauf erkannte der Versicherer noch vor dem Verhandlungstermin die Klage an.

2. Vorgeschichte

Nach gängiger Versicherungspraxis werden die mit der Vermittlung einer Lebens- bzw. Rentenver-sicherung entstehenden Abschlusskosten dem VN nicht gesondert in Rechnung gestellt, sondern mit den ersten Beiträgen verrechnet. Diese sog. Zillmerung hatte unter der Geltung des VVG a.F. zur Folge, dass in der Anfangszeit keine oder nur geringe Beiträge zur Bildung eines Rückkaufswerts bzw. einer beitragsfreien Versicherungssumme zur Verfügung standen, mithin der VN im Falle einer frühzeitigen Einstellung der Beitragszahlung häufig mit leeren Händen dastand. Die seit der Deregulierung im Jahr 1994 gebräuchlichen Rege-lungen in den Versicherungsbedingungen hatte der BGH im Mai 2001 für unwirksam erklärt, da diese dem VN die Nachteile einer frühzeitigen Stornierung nicht hinreichend deutlich vor Augen führten und daher intransparent seien[2]. Hierauf änderte die Versicherungswirtschaft die Gestaltung ihrer Bedingungen, so dass VN, die Versicherungs-verträge auf der Grundlage dieser neuen AVB abschlossen, deutlicher auf die nachteiligen Folgen einer frühzeitigen Vertragsbeendigung hingewiesen wurden, und zwar insbesondere durch eine Garantiewerte-Tabelle, aus der sich die fortlaufende Entwicklung der garantierten Rückkaufswerte und beitragsfreien Versicherungssummen ergab. Im Hinblick auf die bis 2001 abgeschlossenen Verträge ersetzten viele Versicherer im Wege des Treuhänderverfahrens die intransparenten Regelungen durch dem Neuvertragsgeschäft entsprechende Klauseln, womit sich der BGH im Oktober 2005 auseinanderzusetzen hatte. Dabei stellte er fest, dass hiermit die bei Vertragsabschluss infolge des intransparenten Regelungskomplexes bestehende Benachteiligung nicht beseitigt und die Klauselersetzung daher unwirksam sei. Demzufolge stehe dem VN, der einen Vertrag mit intransparenten Regelungen zur Verrechnung der Abschlusskosten abgeschlossen hatte, gem. der nach § 306 Abs. 2 BGB vorzunehmenden ergänzenden Vertragsauslegung ein Rückkaufswert mindestens in Höhe des hälftigen ungezillmerten Deckungskapitals zu[3], was annähernd der Hälfte der eingezahlten Beitrags-summe entspricht. Im Februar 2006 schloss sich das BVerfG dieser Rechtsprechung an und judizierte, die Zillmerung der Abschlusskosten dürfe unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht dazu führen, dass der Rückkaufswert in den ersten Jahren unverhältnismäßig gering ist oder sogar gegen null tendiert[4]. Hieraus leitet der BGH nunmehr eine unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB ab und gelangt damit zur Unwirksamkeit der in den Jahren 2002 bis 2007 verwandten Klauseln zur Rückkaufswertberech-nung[5].

3. Die Konsequenzen

Gemäß § 306 Abs. 2 BGB treten an die Stelle unwirksamer Klauseln die gesetzlichen Vorschriften. Fehlen allerdings zur Vertragsergänzung geeignete Vorschriften und bietet auch die ersatzlose Streichung der Klausel keine interessengerechte Lösung, ist die Lücke im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu schließen[6]. Das VVG a.F. gab mit § 176 Abs. 3 nur einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Berechnung des Rückkaufswerts halten musste, so dass der BGH zur Schließung der Vertragslücke nicht auf dispositives Gesetzesrecht zurückgreifen konnte. Vor diesem Hintergrund hatte der BGH in seinen Urteilen vom 12.10.2005[7] den Mindestrückkaufs-wert im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung bestimmt, und zwar in Höhe der Hälfte des mit den Rechnungsgrundlagen der Prämienkalkulation berechneten ungezillmerten Deckungskapitals. Insofern drängt es sich geradezu auf, diese Lösung auch im Falle der materiellen Unwirksamkeit der Klauseln zur Abschlusskostenverrechnung heran-zuziehen[8]. Hieraus ergäbe sich sodann - wie dem Hinweis des BGH im Verfahren IV ZR 147/09[9] entnommen werden kann - ein entsprechender Anspruch auf einen Mindestrückkaufswert.

4. Problematik

Nach dem zunächst vorgelegten Regierungs-entwurf zum VVG sollte der in § 169 Abs. 3 VVG festgelegte Mindestrückkaufswert rückwirkend auch auf Altverträge Anwendung finden[10]. Die Begrün-dung lautete, dass nach der Rechtsprechung des BGH und des BVerfG die seinerzeitige Praktizierung des Zillmerverfahrens bei Frühstornofällen zu einer unangemessenen Benachteiligung des VN führe und dem durch die Erstreckung der Neuregelung des Rückkaufswerts in § 169 Abs. 3 VVG auf Altverträge Rechnung getragen werde[11]. Im Zuge der weiteren Beratungen gelangte man jedoch offenbar zu der Überzeugung, dass dies zu einer übermäßigen Belastung der Versicherungs-wirtschaft führen würde, weshalb nach der Gesetz gewordenen Fassung des Art. 4 Abs. 2 EGVVG für Altverträge weiterhin § 176 VVG a.F. anzuwenden ist. Zur Begründung wurde allerdings lediglich ausgeführt, dass es für Altverträge bei der Anwendung des bis zum 31.12.2007 geltenden Rechts in seiner Ausprägung durch die Recht-sprechung bleibe[12].

Im Ausgangspunkt hat der Gesetzgeber also für sog. Altverträge das seinerzeit praktizierte Zillmerverfahren bestätigt, wonach Frühstornierer nicht in den Genuss eines Mindestrückkaufswerts kamen. Aber welche Bedeutung hat die Formulierung "in seiner Ausprägung durch die Rechtsprechung"? Insofern ist vor Augen zu halten, dass nach der zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Rechtsprechung des BGH die in den Versicherungsbedingungen enthaltenen Regelungen zur Abschlusskostenverrechnung materiell nicht beanstandet worden waren[13]. Auch in einem zeitlich späteren Beschluss vom 21.11.2007 hatte der BGH lediglich angedeutet, dass infolge der Entscheidung des BVerfG vom 15.02.2006 der Verrechnung hoher Abschlusskosten nach dem Zillmerverfahren "möglicherweise weitergehend als (durch) das Senatsurteil vom 12. Oktober 2005" Grenzen gesetzt seien[14]. Die "Ausprägung durch die Rechtsprechung" bezog sich also auf die Frage der Transparenz der Klauseln zur Rückkaufswerts-berechnung, so dass es nach der seinerzeitigen Auffassung des Gesetzgebers in Bezug auf den sog. Altbestand bei der bis dahin praktizierten Zillmerung verbleiben sollte, soweit den Versicherungsverträgen transparente Bedingungen zugrunde liegen[15]. Und dies auch vor dem Hintergrund etwa bestehender Bedenken im Hinblick auf die materielle Wirksamkeit dieser Klauseln, derer sich der Gesetzgeber ausweislich der oben wiedergegebenen Begründung zum Regierungsentwurf[16] durchaus bewusst war. Inso-fern hat die Legislative von der ihr eingeräumten Gestaltungsfreiheit[17] Gebrauch gemacht, eine vom BVerfG als verfassungswidrig erkannte Rechtslage nur für die Zukunft und nicht rückwirkend auch für laufende bzw. bereits abgeschlossene Sachverhalte neu zu regeln.

Die oben genannte Einschränkung ("Ausprägung durch die Rechtsprechung") bezog sich damit nicht auf eine Wirksamkeitskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB, wie sich auch aus folgender Kontroll-überlegung ergibt: Hätte der Gesetzgeber der Rechtsprechung diesen Weg bewusst offen halten wollen, so hätte für ihn letztlich keine Veranlassung für eine Abkehr von der ursprünglichen Entwurfsfassung, derzufolge § 169 Abs. 3 VVG auch auf den Altbestand Anwendung finden sollte, bestanden. Denn im Falle einer materiellen Unwirksamkeit der Klauseln zur Verrechnung der Abschlusskosten mit den ersten Beiträgen würde sich - wie oben dargelegt - im Wege der ergän-zenden Vertragsauslegung ein Mindestrückkaufs-wert in Höhe des hälftigen ungezillmerten Deckungskapitals ergeben, hätte also der VN letztlich (nahezu) den gleichen Mindestrück-kaufswert erhalten wie bei rückwirkender Anwendung des § 169 Abs. 3 VVG.

5. Resümee

Indem der Gesetzgeber die Regelung zum Mindestrückkaufswert nur für Neuverträge in Kraft gesetzt hat, traf er zugleich die Entscheidung, es hinsichtlich der Altverträge bei der bisherigen Rechtslage zu belassen, derzufolge der VN im Falle eines Frühstornos grundsätzlich keinen oder nur einen geringen Rückkaufswert erhält. Diese (rückwirkende) Entscheidung ist im Rahmen der AGB-Prüfung der bis zum 31.12.2007 verwandten Klauseln zur Bestimmung des Rückkaufswerts zu berücksichtigen. Gemäß § 307 Abs. 3 sind nämlich solche Klauseln nicht auf eine unangemessene Benachteiligung hin überprüfbar, die nicht von Rechtsvorschriften abweichen. Dabei erfasst der Begriff "Rechtsvorschriften" nicht nur kodifiziertes Recht, sondern umschreibt alle rechtsnormativen Vorgaben, die sich als Bestandteil der objektiven Rechtsordnung begreifen lassen[18]. Eine Klausel ist also nur überprüfbar, wenn sie von der Gesamtheit der Rechtslage abweicht, wie sie sich ohne die Klausel für die fragliche Thematik ergäbe - einschließlich gesetzlicher oder übergesetzlicher Ergänzungen[19]. Diese für die vorliegende Thematik maßgebliche Rechtslage wird auch durch die Entscheidung des Gesetzgebers, für Altverträge es weiterhin bei einer Anwendung des § 176 VVG a.F. zu belassen, geprägt, was in Art. 4 Abs. 2 EGVVG entsprechend Ausdruck gefunden hat. Diese Entscheidung ist auch von der Zivilrechtsprechung zu respektieren, will sie sich nicht über den - maßgeblichen - Willen des Gesetzgebers hinweg-setzen.

Fußnoten

* Der Autor ist Lehrbeauftragter für Versicherungsrecht an der FH Köln und Partner der VersicherungsRechts-Kanzlei Post & Jacob.
[1] Hinweis im Verfahren IV ZR 147/09 (nicht veröffentlicht, s. Pressemitteilung BGH Nr. 27/10 vom 05.02.2010).
[2] BGH vom 9.5.2001 VersR 2001, 839 und VersR 2001, 841.
[3] BGH vom 12.10.2005, VersR 2005, 1565 und BGHReport 2006, 24. Diese Art der Berechnung eines Mindestrückkaufswerts entsprach dem dama-ligen Vorschlag der VVG-Kommission, der so allerdings keinen Eingang in § 169 Abs. 3 VVG gefunden hat. Durchgesetzt hat sich vielmehr eine - fiktive - Berechnung der Verteilung der Abschluss-kosten auf die ersten fünf Vertragsjahre, infolge deren der Mindestrückkaufswert geringfügig höher ist als in der von der Kommission vorgeschlagenen Lösung.
[4] BGH vom 15.02.2006 VersR 2006, 489.
[5] Ausführlich zur Vorgeschichte sowie zur absehbaren Änderung der Rechtsprechung Jacob zfs 2009, 483.
[6] Palandt BGB 70. Aufl. § 306, Rn. 13 f. m.w.N.
[7] BGH VersR 2005, 1565 und BGHReport 2006, 24.
[8] Vor dem Hintergrund, dass sich der BGH an dem seinerzeitigen Vorschlag der VVG-Kommission orientiert hatte (BGH VersR 2005, 1565 und BGHReport 2006, 24), welcher letztlich aber nicht in das VVG übernommen wurde, wäre allenfalls zu überlegen, ob alternativ die in § 169 Abs. 3 VVG enthaltene Berechnung zur Lückenfüllung herange-zogen wird.
[9] Hinweis aaO (Fn. 1)
[10] Art. 4 Abs. 2 RegE BT-Drucks. 16/3945 S. 41.
[11] BT-Drucks. 16/3945 S. 119.
[12] Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages vom 20.6.2007 BT-Drucks. 16/5862 S. 100 f.
[13] Vgl. Seiffert r + s 2010, 177 (180).
[14] BGH VersR 2008, 381.
[15] A.A. wohl Seiffert, r + s 2010, 177 (181).
[16] BT-Drucks. 16/3945 S. 119.
[17] Vgl. etwa BverfG VersR 2005, 1109.
[18] Staudinger/Coester, BGB 2006 § 307 Rn. 294; Kieninger in Münch. Komm. zum BGB 5. Aufl. § 307 Rn. 7.
[19] Staudinger/Coester a.a.O. (Fn. 18) Rn. 297.


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